Nationale Varietäten im Sprachunterricht

21. Juni 2008

Der Ausdruck Helvetismus bezeichnet eine sprachliche Besonderheit, die nur oder fast nur im Schweizer Hochdeutsch verwendet wird. Analog dazu sind Austriazismen Besonderheiten des österreichischen Deutsch und Teutonismen Besonderheiten des deutschen Deutschs. Solche Sprachvarianten sind ganz normal und eigentlich nichts Besonderes. Es gibt sie zum Beispiel auch im Englischen oder Spanischen. Welche dieser Varianten die beste ist, ist meiner Meinung nach eine müssige Frage. Beim Beispiel Englisch dürften Briten, Amerikaner und Australier sie unterschiedlich beantworten.
Ich verstehe Hoch- bzw. Standarddeutsch (die Dialekte klammere ich hier absichtlich aus) als plurizentrische Sprache. Deutschland, Österreich und die Schweiz haben je ihre eigene Variante des Hochdeutschen, die sich im Wortschatz, in einigen grammatischen Besonderheiten, in der Aussprache etc. von einander unterscheiden. Im Fall von Deutsch ist zu sagen, dass die deutsche Varietät die grösste und ist. Das erklärt die Dominanz des „deutschländischen“ Deutschs, macht die anderen Varietäten aber nicht weniger richtig, nur weniger verbreitet.

Am auffälligsten sind Helvetismen (und andere Regionalismen) im Wortschatz. In diesem Bereich sind sie auch am ehesten schon in Lehrmittel vorgedrungen. Zur Illustration einige Beispiele für Helvetismen: Velo (Fahrrad), Traktandum (Tagesordnungspunkt), Coiffeur (Friseur), Billet (Fahrkarte) pressieren (sich beeilen), Abwart (Hausmeister) oder parkieren (parken). Einige Wörter haben typisch schweizerische Zusatzbedeutungen. So kann eine Abdankung in der Schweiz eine Trauerfeier bezeichen, eine Aktion ist auch so viel wie ein Sonderangebot und nicht nur Menschen, sondern auch Betten haben Anzüge. Ein paar weitere Beispiele findet ihr im Beitrag Schweizer Wörter.

Dass in der Orthografie des Schweizer Hochdeutschen das Eszett fehlt, dürften regelmässige Leser meines Blogs wohl langsam wissen. 🙂 Es gibt einige grammatische Unterschiede (z.B. unterschiedliche Genera) und Unterschiede in der Aussprache. Auffällig ist hier zum Beispiel, dass das R eher nicht vokalisiert wird. Schweizer sagt also meistens Mutter und nicht „Mutta„. Häufig wird das R auch gerollt, aber das hängt auch vom Basisdialekt des Sprechers ab.
Wer sich für Regionalismen (nicht nur Helvetismen) interessiert, dem empfehle ich (wiedermal) das Variantenwörterbuch.

Die Frage bleibt, wie man im Unterricht mit nationalen Sprachunterrschieden umgehen sollte. Am wichtigsten sind für mich die Situation und das Ziel der Lernenden. Wer Deutsch in der Schweiz lernt, oder in der Schweiz leben will, sollte Helvetismen zumindest verstehen, denn von einem Fahrrad spricht bei uns wirklich so gut wie niemand (auch wenn jeder dieses Wort versteht). Für Französischsprachige ist das Wort Velo zudem vermutlich wesentlich einfacher als Fahrrad. Umgehkehrt nützt so ein Wort Lernenden, die sich gezielt auf ein Studium im Norden Deutschlands vorbereiten, für den aktiven Gebrauch wenig. Für mich, die ich Deutsch in der Schweiz unterrichte, ist der Fall also ziemlich klar. Meine Lernenden leben hier, deshalb sind schweizerische Besonderheiten für sie relevant. Das hindert mich aber nicht daran, sie als schweizerische Besonderheiten zu kennzeichnen. Viele Lernende finden Informationen zu Regionalismen interessant, oft erinnert es sie auch an ihre eigene sprachliche Situation, denn plurizentrische Sprachen gibt es mehr, als man glaubt.

In meinem Aussprachekurs habe ich dann doch R-Vokalisierung und Reibe-R unterrichtet (obwohl ich von Haus aus ein rollendes R spreche) weil es einigen Lernenden das Leben erleichtert. Das gerollte R ist nicht unbedingt einfach zu lernen.

Es käme mir aber selbstverständlich nie in den Sinn, das gerollte R und fehlende Vokalisierungen als Aussprachefehler zu korrigieren, wie es in einigen Phonetikmaterialien geraten wird. Das widerspricht der sprachlichen Realität in der Schweiz und ich bilde meine Schüler schliesslich nicht für die Bühne aus. Ich kläre sie allerdings über die Verbreitung der verschiedenen Varianten auf.

Aber auch für nicht in der Schweiz Lernende wäre es eigentlich sinnvoll zu wissen, dass es dieses gerollte R gibt. Vielleicht sollte man eher sagen: sie sollten es mal gehört haben und damit umgehen können. Viele Lernende, die Deutsch nicht im deutschsprachigen Raum gelernt haben, sind zu erst einmal geschockt, wenn sie das erste Mal mit Hochdeutsch Sprechenden in der freien Wildbahn zu tun haben. Es wäre schön, wenn in Zukunft noch mehr Lehrbuch-CDs die Vielfalt des gesprochenen Hochdeutsch besser abbilden würden. Die Unterschiede innerhalb des deutschen Sprachraumes sind eine Realität und schliesslich weiss man ja nie, wo die Lernenden einmal landen werden. Der GER (gemeinsamer europäischer Referenzrahmen) hat glücklicherweise mit seiner berücksichtigung der Varietäten einige Impulse in diese Richtung gesetzt und das Internet bietet Zugang zu authentischem Sprachmaterial, das die Vielfalt der deutschen Sprache zeigt .

Christa Dürscheid hat heute an der gesamtschweizerischen Tagung von Akdaf und Ledafids einen Vortrag zu den nationalen Varietäten des Deutschen gehalten. Diesem Input ist es zu verdanken, dass ich diesen Beitrag, der schon lange in meinem Entwurfsordner herumdümpelte, endlich veröffentlicht habe.

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2 Kommentare

  • 1. Eine Deutsche Hochsprache&hellip  |  21. Juni 2008 um 18:27

    […] 3 nationalen Varianten des Hochdeutschen, also des Standarddeutschen, ist, schauen Sie mal  unter diesen und auch unter diesen Link, beide auf der DaF-Blogseite von Cornelia Steinmann (s. auf der […]

  • 2. DaF-Blog » Tagungsb&hellip  |  13. September 2009 um 19:44

    […] Sprachraum, indem Sie für die Reflexion über diese Varietäten im Unterricht plädiert, habe ich bereits erwähnt. Andrea Ender stellte in ihrem Beitrag das Projekt “Deutsch als Zweitsprache in […]


Linktipp

SPRACHLICH: Dies, DaF, ecetera. Für Lernende (Aussprache, Grammatik, Hörverstehen und mehr) und Lehrende.
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