Untersuchungen zur rezeptiven Grammatik

22. Oktober 2010

Wenn man über die deutsche Grammatik spricht, geht es meistens sehr schnell darum, was alles „schwierig“ daran ist. Meistens wird aber nicht genauer drauf eingegangen, ob die betreffenden Strukturen und Phänomene nur beim Produzieren oder auch beim Verstehen von Sprache Schwierigkeiten bereiten.

Am Departement für Mehrsprachigkeits- und Fremdsprachenforschung der Universität Fribourg (CH) wird im Moment im Bereich der rezeptiven Grammatik geforscht. In diesem Beitrag fasse ich Teile eines Artikels von Irmtraud Kaiser und Elisabeth Peyer zusammen (genaue Angaben siehe unten), die mit Hilfe eines Lesetests und einer mündlichen Übersetzungsaufgabe kombiniert mit lautem Denken einige grammatische Strukturen daraufhin untersucht haben, ob sie zu Verstehensproblemen führen können.

Die Autorinnen haben Deutschlernenden (A1-C1) mit italienischer und französischer Muttersprache Lexikonartikel zu den imaginären Tieren „Humpfhorn“ und „Flundodil“ vorgelegt. Damit sie Wortschatzprobleme so weit wie möglich kontrollieren konnten, haben sie die Texte mit Interlinearglossen in Französisch und Italienisch versehen (unter den Inhaltswörtern stand also jeweils eine Übersetzung). Auch die Fragen und Antworten zum Leseverstehenstest waren in der L1 (=Erstsprache) der Probanden formuliert bzw. durften in diesen Sprachen gegeben werden. So wurden bei den Fragen und Antworten Verstehens- bzw. Formulierungsprobleme (die ja die Richigkeit der Lösung beeinflussen könnten) weitgehend ausgeschlossen (S. 50-51).

Die Lexikonartikel existierten in verschiedenen Versionen. Jeder Satz wurde mit zwei verschiedenen Strukturen umgesetzt, also zum Beispiel einmal mit einem Linksattribut und einmal mit einem Relativsatz. Dem Satz „Fundodile fressen zum Beispiel die kleinen, sich in der Nähe von Sürmen aufhaltenden Grefen (Linksattribut) entspricht so der Satz „Flundodile fressen zum Beispiel die kleinen Grefen, die sich in der Nähe von Sürmen aufhalten“ (S. 56). Dieses Verfahren erlaubt, die relative Schwierigkeit von Sätzen zu ermitteln. Die Untersuchung zeigte, dass einige der Strukturen, die in der Muttersprache der Probanden nicht vorkommen, für diese tatsächlich schwieriger zu verstehen sind (zum Beispiel das erwähnte Linksattribut oder Sätze mit dem Objekt in der ersten Position vor dem Verb (OVS-Struktur)), aber längst nicht alle. Die Verbklammer bereitet (zumindest beim Lesen) keine Verständnisprobleme (S. 54f.). Eine Übersicht der untersuchten Strukturen findet ihr auf Seite 52.

Die Details könnt ihr selber im Beitrag nachlesen. Ich fand vor allem auch die Erklärungen zum Forschungsdesign – insbesondere das Zusammenspiel zwischen quantitativer und qualitativer Methode – interessant. Wenn es euch auch interessiert, wie wissenschaftliche Aussagen im Bereich Fremdsprachen zustande kommen, kann ich diesen Artikel nur empfehlen. Sehr wichtig finde ich auch, dass er wieder ins Bewusstsein rückt, das Produktion und Rezeption auch im Bereich Grammatik nicht dasselbe sind. Ich habe das Gefühl, dass immer noch oft eine Struktur eingeführt wird, die dann innerhalb einer kurzen Zeitspanne zu Tode geübt wird, obwohl die Lernenden die Struktur entweder bereits längst verstanden haben oder zum produktiven erlernen schlicht mehr Zeit brauchen würden.

Angaben zum Artikel

Peyer, Elisabeth, Kaiser, Irmtraud: Von Humpfhörnern und Flundodilen: Pseudo-Lexikonartikel zum Testen der rezeptiven Schwierigkeit grammatischer Strukturen. In: Bulletin suisse de linguistique appliquée, Nr. 91 (2010), S. 47-66.

Die Nummer 91 hat den Titel „Travaux de jeunes chercheurs-e-es en linguistique appliquée“ und wurde von Alexandre Duchêne und Miriam A. Locher herausgegeben (Herunterladen könnt ihr sie, wenn ihr auf „Nr. 91“ klickt). Der Beitrag von Kaiser und Peyer hat einen kurzen englischen Abstrakt und ist ansonsten auf Deutsch geschrieben. Die italienischen und französischen Beispiele sind übersetzt.

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Linktipp

SPRACHLICH: Dies, DaF, ecetera. Für Lernende (Aussprache, Grammatik, Hörverstehen und mehr) und Lehrende.
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