Zu Beginn der Szene nähert sich Nathan einem psychisch und emotional
stark belasteten Mann. Innert kürzester Zeit erlebte dieser den Abstieg
vom Retter der Christenheit zum Gefangenen und Todeskandidaten, wurde in
letzter Sekunde als einziger begnadigt und ohne Regelung seines Status in
eine Welt hinaus gestossen, mit der er bereits abgeschlossen hatte. Dieser
junge Mann, dessen Selbstvertrauen und Wertvorstellungen durch die vorangegangenen
Ereignisse schwer gelitten haben dürften, wird nun mit einem Angehörigen
eines in der Christenheit schwer diskreditierten Volkes konfrontiert, der
sich ihm in vollendeter Höflichkeit aufdrängt. Auf einen Menschen,
der sich von vornherein schuldig bekennt, die Ruhe seines Gesprächspartners
zu stören, kann ein gut erzogener Mann wie Curd kaum mit konsequenter
Ablehnung reagieren. Zudem wird ihm das Gefühl vermittelt, der Stärkere
zu sein, was ihn an seine ritterlich - ideologische Pflicht erinnert, sich
den Schwachen gegenüber stets grossmütig und edel zu zeigen.
Nathan stellt sich nun in einer Form vor, die den anderen zwingt, sich mit
ihm geistig auseinanderzusetzen, indem er seine Identität solange zum
Rätsel macht, bis der Funke gesprungen ist, und der Ritter nicht mehr
vorgeben kann, den Grund des Gespräches nicht zu kennen. Er versucht
es auch gar nicht, sondern konzentriert sich darauf, Nathans Dank abzuwehren.
Ist er dazu in der Lage, zeugt das von einigem Selbstvertrauen und einer
gewissen Macht, von Dingen also, die Curd momentan nicht sein Eigen nennen
kann. Er will ihre Wiederherstellung keinem Juden verdanken, zu tief wurzeln
erlernte Vorurteile und der Trieb, wenigstens jemandem überlegen zu
sein.
Nathan reagiert auf das zur Schau gestellte Pflichtbewusstsein, dass im Wesentlichen
Verlegenheit überspielen soll, und die Geringschätzung seinem Volk
gegenüber mit Verständnis. Er lässt keinen Konflikt aufbrechen,
zeigt kaum eine direkte Reaktion, fährt fort, den Ritter als im Grunde
gut zu charakterisieren, und schafft so eine Basis, auf Grund deren fortgesetzte
Gespräche möglich sein werden.
Der Tempelherr dankt’s ihm nicht. Er bleibt schroff und knapp und stellt Nathan,
den reichen Juden, der ihm helfen möchte, als potentiellen Schmiergeldverteiler
dar. Nathan wahrt seine Würde und ändert seine Taktik. Statt direkt
mit dem Ritter, spricht er mit dessen Mantel und nimmt ihm so die Möglichkeit,
die unter einem Vorwurf verborgenen Komplimente auszuschlagen.
Nathans Träne, Ausdruck aufgewühlter Gefühle und des Schmerzes,
der Recha gegenwärtig zuteil wird, entblösst das künstliche
Gehabe des Ritters so sehr, dass er, verwirrt und erschreckt über den
unerwarteten Gefühlsausbruch, höflicher wird. Nathan lässt
ihm keine Zeit, Herr der Verwirrung zu werden, er kommt endlich zum eigentlichen
Problem. Er erniedrigt sich in den Augen Curds weiter, indem ersagt, dass
er inzwischen schon mit einem Mantel zufrieden wäre, um dem aufgestauten
Dank ein Ventil zu bieten. Dadurch wird Curd klar, dass es nicht allein damit
getan ist, jemanden zu retten, sondern dass man dadurch den Geretteten gleichsam
in Vormundschaft nimmt und das Gleichgewicht nur wieder herstellen kann,
wenn man ihm gestattet, die Schuld durch Dank abzutragen. Nathan hat dem
Ritter seine eigene Situation vor Augen geführt.
Curd findet keine Worte, schämt sich wohl, aber Nathan will ihn weder
mehr als nötig verunsichern noch sein Selbstwertgefühl weiter schwächen.
Er will eine künftige Beziehung auf Gleichberechtigung aufbauen. Deshalb
lädt er, der Starke, Curds Versagen auf die Schultern seiner eigenen
Familie. Dadurch wird der Ritter fähig zur Selbstkritik, gesteht dem
Juden gewisse Achtung und seinem Orden Fehler zu.
Nathan aber interessiert sich nur für dieses spezielle Exemplar von
Tempelritter und betrachtet es als Mensch und nicht als Mitglied einer Gruppe.
Er individualisiert die ganze Diskussion. Er stellt alle guten und mittelguten
Menschen auf je eine Stufe. Davon ausgehend, plaziert er Anspielungen auf
gegenseitige fehlende Toleranz, die dem Ritter sauer aufstossen. Alte Ressentiments
gegen Juden brechen wieder auf, aber es erscheinen auch echte Überlegungen,
die die reale politische Situation (Kreuzzüge, Suche nach der besten
Religion) hinterfragen. Bei solchen Ansätzen hakt der aufgeklärte
Nathan natürlich sofort ein. Noch einmal löst er das Individuum
von seiner Herkunft und appelliert allein an den vernunftbegabten Menschen.
Das legt nun endgültig den Grundstein zu einer von Nathan erkämpften
Freundschaft. Durch seine Würde, die er jeder Erniedrigung entgegengestellt
hat, hat er dem in einem ideellen Vakuum steckenden Jüngling ein positives
Vorbild gegeben, das dieser nach einer längeren Phase der Situationsbewältigung
( Unhöflichkeit ) adaptierte.
Curd ist nun so stark, dass er zugeben kann, dass ihm Recha doch einiges
bedeutet.