[Home] [Linguistik-Home] [Schrift]


Konzeptionelle Mündlichkeit und Schriftlichkeit

Sprache erscheint in zwei verschiedenen medialen Ausprägungen, einerseits als gesprochene, andererseits als geschriebene Sprache.1 Beiden Ausprägungen lassen sich typische Funktionen zuschreiben, wie zum Beispiel der geschriebenen Sprache die Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse oder der gesprochenen das Mitteilen von Gefühlen. Redewendungen wie "sie spricht wie gedruckt" oder "sie schreibt, wie sie spricht" belegen aber, dass die Einteilung in phonische und graphische Äusserungen beziehungsweise Texte diese nicht ausreichend charakterisieren kann. Ein Vortrag über den Konkurs der Swissair ist medial phonisch. Dennoch weisst er idealerweise mehr Gemeinsamkeiten mit dem medial graphischen Artikel der NZZ zum gleichen Thema auf als mit einem Telefongespräch zweier Freunde, die sich über denselben Konkurs unterhalten. Deswegen müssen neben der medialen Realisierung einer Äusserung also auch die Bedingungen der Kommunikation und die daraus resultierenden Kommunikationsstrategien berücksichtigt werden. Zentral dafür, welche Strategien zum Einsatz kommen, ist in mehrfacher Hinsicht die Distanz zwischen den Kommunikationspartnern. 2

Eine Kommunikationssituation ist in grossem Masse durch die raumzeitliche Nähe beziehungsweise Distanz der beteiligten Partner und ihre Vertrautheit miteinander charakterisiert.
Sind die Kommunikationspartner im selben Raum anwesend, stehen ihnen durch den Sichtkontakt neben verbalen Mitteln auch nonverbale Strategien wie Zeigegesten und Mimik zur Verfügung, mit denen sie auf den situativen Kontext Bezug nehmen können, ohne ihn zu versprachlichen. Produktion und Rezeption sind in diesem Fall direkt aneinander gekoppelt, so dass der Fortgang der Kommunikation durch Bestätigungen und Rückfragen gesteuert werden kann. Die Kommunikation ist dialogisch und entwickelt sich weitgehend spontan. Durch die Kooperation der beteiligten Partner erfordert sie wenig Planung, da jeweils direkt auf die Bedürfnisse aller eingegangen werden kann. Dementsprechend kann sich das Thema frei entwickeln und ist nicht starr fixiert.
Bei raumzeitlicher Trennung liegt dagegen häufig eine Situationsentbindung vor. Die Umstände der prototypisch monologischen Kommunikation müssen versprachlicht werden, damit sie für das Gegenüber überhaupt fassbar werden. Gleichzeitig muss die Kommunikation stärker geplant werden, da Rückfragen nicht spontan erfolgen können oder ganz wegfallen. Das Thema ist deswegen in der Regel fixiert und Themenwechsel müssen explizit motiviert werden (KOCH/OESTERREICHER 1985: 19-21).

Sind sich die Partner vertraut, sind grosse Wissensbestände verfügbar, ohne dass sie explizit in Worte gefasst werden müssen. Wenn ein personales Gegenüber existiert, muss sehr viel weniger Kontext versprachlicht werden, als wenn sich die Kommunikation an eine Vielzahl von Rezipienten oder sogar an eine anonyme Instanz richtet (KOCH/OESTERREICHER 1985: 20).
Anwesenheit und Vertrautheit der Partner ermöglichen zudem emotionale Beteiligung und Expressivität, wogegen die emotionale und räumliche Distanz von Partnern und die daraus resultierende Notwendigkeit zur Planung und Reflexion eher mit dem Bestreben nach Objektivität verbunden ist (GÜNTHER 1993: 88).

Texte, die in durch emotionale und raumzeitliche Nähe geprägten Kommunikationssituationen geäussert werden, werden als konzeptionell mündlich bezeichnet. Konzeptionelle Schriftlichkeit ist demgegenüber eher durch Distanz geprägt. Die Versprachlichungsstrategien die konzeptionelle Mündlichkeit beziehungsweise Schriftlichkeit prägen, ergeben sich aus den kommunikativen Bedingungen. Aus der Dialogizität und geringen Planung entspringt eine gewisse Prozesshaftigkeit und Vorläufigkeit der konzeptionell mündlichen Texte, die der Endgültigkeit und Verdinglichung schriftlicher Texte gegenübersteht. Der Planungsaufwand, der die Anwesenheit und Vertrautheit der beteiligten Partner kompensiert, führt zu einer höheren Kompaktheit und Komplexität konzeptionell schriftlicher Texte. Nominalstil und Fachtermini anstelle von Umschreibungen sind Beispiele dafür. Die Situationshilfen konzeptioneller Mündlichkeit wie Mimik, Gestik, situativer Kontext und Intonation werden durch aufwendigere Syntax, zum Beispiel Hypotaxe statt Parataxe, spezifisches Vokabular und differenzierte Kohäsionsmittel ersetzt. Während für eine konzeptionell mündliche Äusserung die Konjunktion und typisch ist, werden in konzeptionell schriftlicher Kommunikation Zusammenhänge durch spezifische Konnektoren wie "deshalb", "damit", "obwohl" etc. als eindeutig kausal, final oder konzessiv gekennzeichnet (KOCH/OESTERREICHER 1985: 21- 24, KOCH/OESTERRECIHER 1997: 590f.).
Im Allgemeinen ist somit die Integration, Komplexität, Elaboriertheit, Planung und die Informationsdichte in konzeptionell schriftlichen Texten höher, als in konzeptionell mündlichen. Konzeptionelle Mündlichkeit und Schriftlichkeit bilden aber keine Diochtomie, sondern eher ein Kontinuum mit vielen graduellen Abstufungen (KOCH/OESTERREICHER 1985: 17).

Wichtig ist auch, dass sowohl konzeptionelle Mündlichkeit wie Schriftlichkeit nicht an ein Medium gebunden sind. Zwar sind die Kombinationen konzeptionell mündlich/medial phonisch beziehungsweise konzeptionell schriftlich/medial graphisch besonders typisch (KOCH/OESTERREICHER 1985: 17), der oben erwähnte medial phonische Vortrag aber ist konzeptionell eher schriftlich angelegt. Auch wenn er vor einem realen Publikum stattfindet, sind die Anwesenden dem Vortragenden in der Regel unbekannt und bringen derart verschiedene Wissensbestände mit, dass der Vortragende nur beschränkt darauf zugreifen kann. Ein Vortrag ist deswegen weitgehend monologisch, vorgeplant, themafixiert, reflektiert und situationsentbunden und damit unabhängig vom Medium konzeptionell schriftlich angelegt. Es ist aber denkbar, dass der Vortrag verschriftet wird und das Medium wechselt. Ein solcher Wechsel ist prinzipiell immer möglich, wenn auch zum Teil erst in neuerer Zeit durch die Entwicklung moderner technischer Hilfsmittel, wie zum Beispiel bei der Transkription eines familiären Gesprächs (KOCH/OESTERREICHER 1985: 18).
Durch die Loslösung der Konzeption vom Medium kann man auch Distanzbereiche in oralen Gesellschaften angemessen beschreiben. Um paradoxe Benennungen zu vermeiden, spricht man in diesem Fall von elaborierter Mündlichkeit (KOCH/OESTERREICHER 1997: 588).


1 Die Gebärdensprache wird in diesem Text  (und ebenso in der zitierten Literatur) nicht berücksichtigt. Ich gehe jedoch davon aus, dass gebärdete Äusserungen ähnlichen Bedingungen unterliegen wie gesprochene. [zurück]
2 Vgl. dazu Siebert Ott (2001: 90-92, 102-115) und die Arbeiten von Koch/Oesterreicher (1985 & 1997) und Günther (1993 & 1997). [zurück]

Bibliographie

Günther Hartmut, (1993) Erziehung zur Schriftlichkeit. In: Sprache gebrauchen - Sprachwissen erwerben. Peter Eisenberg, Peter Klotz (Hsg.). Stuttgart. S. 85-96.
Günther Hartmut (1997), Mündlichkeit und Schriftlichkeit. In: Sprachen werden Schrift. Heiko Balhorn, Heide Niemann (Hsg.) S. 64-73.
Koch, Peter & W. Oesterreicher (1985). Sprache der Nähe - Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgebrauch. In: Romanistisches Jahrbuch 36,. S. 15- 43.
Koch, Peter & W. Oesterreicher (1997). Schriftlichkeit und Sprache . In: H. Günther & O. Ludwig (Hsg.), Schrift und Schriftlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung. 1. Halbband. Berlin. S. 587 - 604.
Siebert-Ott Gesa Maren. (2001) Frühe Mehrsprachigkeit. Probleme des Grammatikerwerbs in multilingualen und multikulturellen Kontexten. (= Linguistische Arbeiten 440) Tübingen.

Anmerkungen

Der vorliegene Text ist im März 2002 als Teil einer grösseren Seminararbeit bei Prof. Burger an der Universität Zürich entstanden und wurde für diese Fassung geringfügig bearbeitet.


[Home] [Linguistik-Home] [Schrift]


Erstellt am 12.05.03 von Cornelia Steinmann. Letzte Bearbeitung am 15.01.04.
Webhosting durch  Siteware Systems GmbH.