Eine neue Liebe im Herbst des Lebens für
Ueli
Impressum
Geschrieben wurde der Roman im ersten Schreibworkshop des
Intensivkurses Deutsch im Herbst 2003. Und zwar von folgenden Autoren
und Autorinnen:
- Abigail Speak
- Bastien Milani
- Debora Poretti
- Radka Strnadová
- Taavi Pärnämen
- Johanna Noser
- Ivan Muñoz
Der Roman erschien am 8.Oktober 2003 in einer ersten Auflage von etwa
25 Stück im ConnyBrunner-IK-DaF-Zürich-Verlag. Alle Rechte
sind der Gruppe und allen fantasievollen Köpfen vorbehalten.
Das Treffen
Anna ist sehr gelangweilt. "Was für ein romantischer Ausflug ist
das?", denkt sie. "Was glaubt er eigentlich? Dass ich ein
50-jähriger Lokomotivführer bin?" Von allen
Ausflugsmöglichkeiten in der Schweiz findet sie sich im
Verkehrsmuseum Luzern. Hätte Anna Robert mit seinen schönen
langen Haaren und seinen grüblerischen schwarzen Augen nicht
unglaublich attraktiv gefunden, wäre sie überhaupt nicht
seine Freundin. Trotz seinem guten Aussehen war Robert egoistisch und
gemein. Er war wie ein Apfel, der frisch und glänzend aussieht,
bis man hinein beisst und realisiert, dass er ganz verfault ist. Eine
totale Enttäuschung. Anna schaut ihn an: es ist fast unglaublich,
denkt sie, dass ein so gut aussehender Mann so langweilig sein kann. Er
kann kaum etwas Interessantes sagen, denkt Anna, er spricht immer
über sein verdammtes Motorrad, eine 1950-er Harley Davidson. Wie
viel mal muss sie dieselbe Scheisse hören? Plötzlich
hört sie eine tiefe Stimme und will wissen zu wem sie gehört…
Sie schaut auf und ist überwältigt von einem starken
Liebesgefühl. Dieser Mann ist ein echter Mann; er hat einen
Vollbart und sieht sehr stark und liebevoll aus, denkt sie.
Glücklicherweise für Ueli bemerkt Anna nur sein Gesicht, weil
es so charmant ist und nicht seinnr altmodischen Kleidungsstil. Ueli
hat immer Kleider, die seine Mutter für ihn gekauft hat, an diesem
Tag trägt er ein kariertes Hemd, braune Hosen und rote Schuhe.
Ueli ist mit seiner Mutter für einen Tagesausflug in Luzern. Er
hat sich seit Wochen so fest auf diesen Ausflug zum Verkehrsmuseum
gefreut. Ueli weiss alles, was es zu wissen gibt über
Verkehrsgeschichte und spricht mit Leidenschaft über die alten
Lokomotiven. Er findet die Entwicklung der Technologie der Lokomotiven
faszinierend: Von den Dampflokomotiven bis zu den neuen Zügen, die
er selber als Lokomotivführer führte. So schnell sind die
Lokomotiven heutzutage, denkt er, dass die Leute, die diese uralten
Lokomotiven führten, sich über die neuen wundern würden.
Er ist sehr glücklich mit seiner Arbeit. Ueli ist so in die
Lokomotiven vertieft, dass er die 18-jährige, rothaarige Frau die
seit 15 Minuten ihm und seiner Mutter folgt und ihm zuhört, nicht
bemerkt hat. Anna besinnt sich jetzt anders. Das Verkehrsmuseum ist ein
sehr interessantes Ausflugsziel, denkt sie. Sie hatte keine Ahnung,
dass diese Lokomotive so eine faszinierende Geschichte haben.
Anna und Ueli haben zum ersten Mal Augenkontakt und es durchläuft
beide ein elektrisierendes Gefühl. Anna denkt, dass die
glitzernden Augen von Ueli die allerschönsten Augen sind, die sie
jemals gesehen hat. Für Ueli war es, als ob einer von seine
Liebesromanen wahr würde. Seine Traumsituation, denkt Ueli: eine
Frau so hübsch wie ein Engel, die findet ihn, ja ihn,
interessant…er muss seine Mutter schnell los werden, sonst würde
er gar keine Chance bei dieser wunderschönen Frau haben.
1
Was sagst du dazu, wenn ich dich küsse?
Anna ist von diesem Monstrum aus Metall sehr beeindruckt. Sie kommt
näher, bewegt sich um die Lokomotive, beugt den Kopf. Sie ist sehr
interessiert. Sie kann die Vielseitigkeit und die Präzision der
Mechanik beobachten. Dieser alte Haufen aus Schrott hat etwas
Faszinierendes, fast Verführerisches. Kann schliesslich das Alter
nicht etwas Verführerisches haben? Plötzlich steht sie wieder
auf. Robert ist nicht mehr da. Wohin hat er gehen können? Und der
andere Mann ? Auch nicht. Sie sind alle verschwunden. Zusätzlich
hat ihr Handy kein Empfang mehr. Sie kann nur zu Fuss zurückgehen.
Unterwegs erblickt sie einen bekannten Menschen. Sie hat ihn schon
gesehen. Ja, er ist der Mann, der ihr, Robert und seiner Mutter
Erklärungen über Lokomotiven gegeben hat. Er trifft
Vorbereitung, um um die Ecke zu biegen. "Hallo", schreit sie. Sie geht
schnell zu ihm, ohne viel zu überlegen. "Hallo", antwortet er ihr
höflich, ein wenig von dieser Begeisterung erstaunt.
- "Kann ich Ihnen helfen?"
- "Ja ... äh ..., eigentlich nein… geht es Ihnen gut?" Das
Verhalten von Anna ist nicht sehr vernünftig. Sie kennt ihn nicht
einmal. Sie ist eher lustig. Das macht ihn lächeln. Sie
möchte die Unterhaltung weiterführen, aber sie weiss nicht
wie. Sie ist jetzt ein bisschen verlegen. Zur gleichen Zeit schämt
sie sich, sich in eine solche Lage gebracht zu haben und möchte
fort, und zur gleichen Zeit hat sie Lust, bei ihm zu bleiben. Sie weiss
wirklich nicht, was sie sagen soll. Er würde ihr gern helfen, aber
er ist auch ein bisschen verlegen. Es ist nicht, dass er von Anna oder
etwas anderem erschüttert ist, es ist seine Natur. Aber für
Anna ist es eine andere Sache. Sie ist nicht gewöhnt so scheu zu
sein.
- "Ihre Erklärungen waren sehr interessant", sagt sie endlich.
- "Ja, wirklich ? Ohne Umschweife zur Sache zu kommen: ich habe Ihren
Freund gesehen, Robert. Er suchte Sie."
- "Ha… ja… ich habe ihn vorher schon gesehen… alles ist in Ordnung…"
Anna schaut in seine Augen, ohne viel daran zu denken, was sie sagt.
Seine Augen, die wie von einem jungen Mann sind, kontrastieren mit
seinem ergrauten Dreitagebart und seinem schon vorgerückten Alter.
Einige Falten zeichnen sein feines, schmales Gesicht. Zur gleichen Zeit
drücken seine grossen Augenbrauen Teilnahme aus. Seine Augen, die
wie die eines jungen, ängstlichen Hundes glänzen, lassen ihn
sympathisch aussehen. Er spricht leise. Er hat alles von einem
zurückhaltenden Menschen. All das gibt ihm ein ziemlich
bezauberndes Aussehen, dessen er sich nicht bewusst zu sein scheint.
- "Was machen Sie eigentlich jetzt?", fragt Anna.
- "Ich… ich kehre nach Hause zurück…"
- "Vielleicht können wir eine kleine Strecke zusammen gehen?"
- "Ich nehme den Zug nach Zürich."
- "Ich auch… das ist perfekt!"
Er erwartet nicht, dass eine so junge Frau soviel Wert darauf legt, mit
ihm zu verkehren. Na ja, er kann ihre Gesellschaft nicht ausschlagen.
Sie ist sehr reizend und er ist dafür nicht unempfindlich.
- "Wie heissen Sie schon wieder?"
- "Ich heisse Ueli."
- "Sehr hübsch."
- "Und Sie heissen…"
- "Anna, aber Sie können mich duzen."
- "OK, duzen wir uns."
Anna und Ueli nehmen zusammen den Zug. Anna hört nicht auf zu
reden. Ueli folgt ihr, so gut er kann. Sie reden auch über ihre
Arbeit, ihren Geschmack, ihrer Freizeit... Aber plötzlich fragt
Ueli mit einer ernsten Miene:
- "Wie alt bist du?"
- "Euh, ich bin 22." Sagt sie, während sie ihre Augen weit
öffnet.
- "Weißt du…"
- "Was machst du morgen Abend? Vielleicht könnten wir uns sehen?"
Sie schaut ihn offen an. Sie hat stolze, geschwungene Brauen mit Augen,
die im Moment ziemlich betörend sind. Eine rothaarige Strähne
streichelt ihre Schläfe, um an der weissen Haut ihres Halses
entlang zu laufen und über ihrem Schlüsselbein zu enden, das
ihr Pullover sehen lässt. Ihr Klein-Mädchen-Lächeln
macht Ueli verletzbar.
- "Ich bin schon 55, siehst du", sagt er trotz allem. Anna ist
angekommen. Sie muss aussteigen.
- "Ich bin eigentlich 18", Sie steht auf, und während sie sich
bückt, kommt sie schnell mit ihren Lippen an seinen Mund und macht
sich dann auf die Socken. Sie lächelt. Sie ist glücklich.
Eine Woche später denkt Ueli immer noch an Anna, an diesen Kuss.
Er bereut, sie weggehen gelassen zu haben. Er will sie wieder sehen.
Kaputter Pneu, Missverständnis und
Wiedersehen
Es ist Weihnachten. Es schneit und Zürich ist mit weissem Schnee
bedeckt. Anna ist zu Hause. Weil sie nicht weiss, was machen, schaut
sie zum Fenster hinaus und sieht die Schneeflocken langsam fallen.
Plötzlich beschliesst sie, einen Ausflug mit dem Fahrrad zu
machen. Aber leider entdeckt Anna, dass sie mit ihrem Fahrrad nicht
mehr fahren kann, denn der Pneu hat ein Loch, das Licht ist defekt, die
Bremsen sind kaputt und die Gangschaltung klemmt. Sie beschliesst also,
es zu Robert zu bringen, um es zu reparieren. Robert ist sehr
glücklich, Anna zu sehen und ihr helfen zu können; er
erklärt ihr sehr ausführlich und sehr liebenswürdig, wie
das Fahrrad funktioniert. Sie hört mit Interesse zu und beide
verbringen in der Werkstatt zusammen viel Zeit.
Gleichzeitig hat Ueli gesehen, dass Anna in die Werkstatt gegangen ist,
und er will auf sie warten. Als Ueli merkt, dass sie nicht sofort
heraus kommt, geht er schauen, und er sieht seine Freundin, die
unbefangen und froh mit Robert spricht. Langsam schleichen sich
schlechte Gedanken bei Ueli ein und er wird immer eifersüchtiger
auf Robert. Er sagt sich: "Nur die Ruhe bewahren! Was mache ich? Lasse
ich mich blindlings von diesen Gefühlen leiten oder soll ich den
Verstand auch ins Spiel bringen? Also überlegen wir ganz logisch.
Es gibt zwei Möglichkeiten. Ich gehe und ertränke meinen
Kummer oder ich stelle mich der Sache..." Plötzlich kommt ein
starker und kalter Windstoss auf und reisst das Fenster auf, durch das
Ueli in die Werkstatt hineinspionierte. Oh Schreck! Jetzt ist er
ertappt und es bleibt ihm nichts anderes übrig, als mit Anna und
Robert zu reden. "Darf ich reinkommen?", fragt er. "Ja sicher!",
antwortet Anna. Sie merkt sofort, dass Ueli etwas bekümmert ist
und fragt: "Kommst du mich abholen?" - "Ja." Sie verabschieden sich von
Robert und gehen.
Draussen fragt Anna Ueli: "Kamst du mich wirklich abholen?" Ueli mag
Anna so sehr, dass er sie nicht anlügen will und gesteht ihr
sogar, dass er eifersüchtig auf Robert ist. Anna muss innerlich
lachen, doch möchte sie Ueli nicht verletzen und erklärt mit
liebevollen Worten, dass dies ein Missverständnis sei. Sie
interessiere sich einfach für die Technik. Das ist alles.
Zutiefst glücklich begleitet Ueli Anna nach Hause.
Passen die zwei wirklich zusammen?
Es ist ein sonniger Januartag. Ueli und Anna spazieren schon zwei
Stunden durch die Altstadt von Zürich und weil Anna nicht gut
angezogen ist, wird ihr kalt. Die beiden entscheiden sich dafür,
etwas Warmes in einem kleinen Kaffee an der Limmat zu trinken. Bis der
Kaffee für Anna und Tee für Ueli fertig ist, beobachtet Anna
zwei kleine Jungen, die mit einem Ball spielen.
"Wie viele Kinder möchtest du haben?", fragt Ueli.
"Sieben, acht", lacht Anna.
"Bitte, kannst du einmal ernst sein?", bittet Ueli sie.
"Ich habe niemals darüber nachgedacht, aber ein oder zwei, dass
wäre sicher schön." Für einen Moment ist sie still und
es ist klar, dass sie an etwas denkt.
"An unsere Hochzeit habe ich schon vielmals gedacht, welche Kleidung
soll ich tragen, welche Musik auswählen, aber das alles das sind
nur Träume. Ich möchte zuerst viel erleben und erst in zehn
Jahren heiraten."
"In zehn Jahren? Zehn Jahren?", Ueli schaut sie überrascht an.
"Hast du nicht an mein Alter gedacht?", fragt er.
"Nein", antwortet sie.
Danach schauen die beiden aus dem Fenster und sagen lange nichts
zueinender. Es ist klar, dass sie an die siebenunddreissig Jahre
Unterschied zwischen ihnen denken. Anna unterbricht das Schweigen. Sie
lächelt Ueli an und sagt: "Am Anfang unserer Beziehung haben wir
auch nicht an die siebenunddreissig Jahre gedacht, warum sollen wir
jetzt? Ich möchte nicht!", bittet Anna ihn und im nächsten
Moment wechselt das Thema.
"Was soll ich für die Skiferien packen? Soll ich die gelbe oder
die rote Bluse nehmen?", fragt sie in einem lustigen Ton. "Ich kann
mich nie entscheiden, ich denke, gelb passt nicht zu meinen roten
Haaren, aber wenn ich die rote Bluse trage, dann bin ich zu rot, oder?"
Es ist offensichtig, dass Ueli nicht zuhört, er macht sich
weiterhin Gedanken über seine Zukunft und an seinem Ausdruck kann
man ablesen, dass er unglücklich ist.
Der zauberhafte Besuch
Ueli spielt sehr laut Gitarre. Er möchte ein bisschen üben,
falls das Gitarre-Spielen Anna gefällt.
Sehr schöne Lieder kann er spielen, die auch Anna bekannt sein
werden. Die Gartenzwerge lieben es, Musik zu hören.
Die Zeit vergeht und Anna kommt zu Ueli. Die kleinen Gartenzwerge
erstarren vor Schreck.
-DIE FRAU IST SCHON GEKOMMEN !!
Berta, die Mutter von Ueli, kommt aus der Dusche, weil sie gehört
hat, dass jetzt eine Frau in ihrem Haus ist.
Ist die Frau Anna?
Warum kommt sie jetzt, und stört, wenn Ueli so schön spielt.
(Am Morgen hat sie von Gartenzwerge gehört, dass eine Frau
in Uelis Leben gekommen ist,
grauenhaft, hat sie gedacht.)
Berta denkt, dass diese Frau nicht aus guter Familie kommt.
Was wird mit der Familie geschehen, wenn eine Frau kommt und ihr Ueli
wegnimmt?
Und sicher versteht Anna nichts von Gartenzwergen, und wie man mit
ihnen ab und zu Sekt trinken kann.
Die Dame ist im Haus.
Anna hat schöne Vergissmeinnicht für Berta, und Berta wird
froh.
Die Gartenzwerge klatschen in die Hände. Jetzt ist alles gut und
Ueli kann mit Anna zusammen leben.
Ein Tag in Davos
Es ist ein wunderschöner Tag in Davos. Die Sonne scheint und der
Schnee ist so weich und weiss, dass die Augen geblendet werden.
Anna steigt aus dem Auto. Sie sieht, dass alle Leute so glücklich
sind und ein Lächeln im Gesicht haben. Sie ist nicht so sicher
über die Gefühle von Ueli. Er hat in den letzten Tagen seine
männliche Seite ein bisschen zu viel gezeigt. Warum geht sie mit
Robert ins Kino, wo war sie gestern Abend um 9:00 Uhr usw. Und jetzt
sind sie in diesem schönen Ferienort und sie möchte nur, dass
alles gut geht. Am Ende sind nur sie beide zusammen, ohne Uelis Mutter.
Nur sie zwei.
Sie schaut Ueli an und zum ersten Mal gibt es keine Angst, keine
schlechten Gefühle, keine Beschuldigungen. Nur Einverständnis.
"Wir müssen miteinander sprechen", sagt Anna. "Ja, ich denke, du
hast recht", antwortet Ueli. "Es tut mir wirklich leid für alles,
was ich Schlechtes gesagt oder getan habe. Ich habe nicht gedacht, dass
meine Beziehung mit Robert dich so eifersüchtig machen würde.
Aber ich brauche auch dein Verständnis. Robert ist seit so langer
Zeit mein Freund und wir waren immer Freunde und nie etwas mehr. Er hat
mir viel geholfen, als ich meine Eltern verloren hatte. Aber er ist nur
ein guter Freund und ich möchte gern, dass es so bleibt. Du musst
nicht eifersüchtig auf ihn sein. Ich liebe dich so sehr, dass ich
dich nicht verlieren möchte. Kannst du das verstehen und mit mir
so leben?", fragt Anna.
"Ich habe es jetzt verstanden. Aber ich brauche auch ein bisschen Zeit
um darüber nachzudenken. Ich versuche, dir mehr zu glauben. Es tut
mir auch leid. Ich bin ein altmodischer Mann. Aber ich probiere es. Ich
liebe dich auch. Ich möchte dich auch nicht verlieren", sagt Ueli.
Neue Kleider - Neuer Mann?
Der Beginn des Januars ist eine spezielle, magische Periode im Leben
von Frauen, die Periode von der Erneuerung und des Beginns. Der Beginn
des Januars ist die Periode der Ausverkäufe. Die alten Kleider
werden in grossen Mengen weggeworfen um Platz für neue Sachen zu
schaffen. Tausende von Frauen in der ganzen Welt beginnen zu
träumen und sich vorzustellen, mit welchen neuen Schuhen, Blusen,
oder Röcken sie ihre Garderobe ergänzen werden. Alle diese
Frauen beginnen beinahe zu glauben, dass die Probleme mit den alten
Kleidern weggeworfen werden können, und dass neue Erfolge mit
neuen Sachen kommen.
Anna unterscheidet sich nicht von anderen Frauen. Sie glaubt wie die
Anderen, dass die neue Anna mit der neuen Garderobe geboren, und dass
die Spannung mit Ueli verschwinden würde.
Am ersten Tag des Ausverkaufs hatte Anna viel Glück. Zuerst hat
sie ein hübsches kleines rotes Kleid gekauft. Dieses exklusive
Modell eines italienischen Modemachers sitzt Anna wie angegossen. Dann
hat sie auch ein paar rote Schuhe und eine rote Handtasche gefunden. Zu
Hause probiert Anna wieder und wieder ihre neuen Einkäufe und
bewundert ihre schlanke und junge Figur. Sie ist glücklich, denn
sie fühlt sich schön und sexy.
Am folgenden Abend wollen Anna und Ueli ins Restaurant gehen. Viertel
vor sieben klingelt Ueli und die glückliche Anna geht aus dem
Schlafzimmer und öffnet die Tür. Was ist los? Was bedeutet
dieser Ausdruck auf seinem Gesicht? Anna sieht keinen Ausdruck der
Bewunderung auf seinem Gesicht, sondern Empörung und
Entrüstung.
"Beabsichtigst du etwa in dieser Montur auf die Strasse zu gehen? Ich
verlange, dass du heute ein anderes Kleid trägst, und dass diese
unanständige Kreation morgen in den Laden zurückgebracht
wird." - "Was stört dich an diesem Kleid? Warum diese
übermässige Reaktion?" Ueli antwortet im Umgangston eines
Lehrers, der mit seinen Schülern spricht: "Du bist zu jung. Du
musst verstehen, dass eine junge Frau nicht mit einem so kurzen, so
hautengem und so rotem Kleid spazieren gehen kann.
Natürlich kann Ueli nicht sagen, dass er sich selbst alt und
staubig neben dieser Frau in Rot fühlt, dass nicht nur dieses
Kleid, sondern Anna selbst zu schön und zu sexy für ihn ist.
Er fühlt sich wie eine ägyptische Mumie, die Archäologen
nach tausend Jahren ausgegraben haben, und die feststellt, dass das
Leben in der Sonne nichts zu tun hat mit seiner Existenz im Grab.
Plötzlich realisiert Ueli, dass er die letzten 40 Jahre in der
Welt seiner Romane verbracht hat und dass seine künstliche Welt
nur eine blasse Kopie des Lebens war. Sein Unterbewusstsein sagt ihm,
dass er nur eine trockene Mumie ist, aber sein Ego kann das nicht
zugeben. Seine Entscheidung ist getroffen: Anna muss eine neutrale
Kleidung tragen und auch ein neutrales Verhalten haben. Kein Flirt
mit jungen Skifahrern in Gstaad und kein Tanz nach Mitternacht
sind erlaubt.
Im gleichen Moment macht Anna eine Entdeckung. Plötzlich sieht sie
den 55-jährigen, netten aber uninteressanten Ueli, der alle
Menschen gleich machen möchte und der gegen alles Neue ist. Sie
bemerkt auch seine Unaufrichtigkeit. In seinen Romanen beschreibt er
eine perfekte Liebe und tolerante und verständliche
Persönlichkeiten. Aber diese Welt hat nichts zu tun mit Ueli. In
diesem Moment beschliesst sie ihre Beziehung zu ihm zu beenden.
Sie packt ihre Sachen und auch das Portemonnaie von Ueli (Anna hat
immer zu wenig Geld) und rennt davon. Sie beschliesst, Robert
anzurufen, um mit ihm zusammen ihr neues Kleid der Welt zu zeigen.
Anna ist weg. Das Glücksgefühl von Ueli
ist auch weg.
"Man kann nicht so auf die Strasse gehen", sagt Ueli zu sich.
"Ich habe Recht. Sie darf sich darüber ärgern, aber die
Wahrheit ist die Wahrheit."
Ueli macht das Licht seines Zimmers aus und geht ins Bett. Anna ist
immer noch weg.
"Wo hast du gesteckt?", möchte er sie fragen, sobald sie kommt,
aber sie ist nicht da, und Ueli beginnt ein schlechtes Gewissen zu
haben.
In der Nacht, in der völligen Dunkelheit, kann er ihr leuchtendes
Gesicht anschauen, aber er weiss, dass das nur seine Einbildung ist.
Als er das Licht wieder einschaltet, sieht er den Abdruck ihrer Figur
in ihrer leeren Hälfte des Bettes.
"Vielleicht bin ich schon alt geworden", sagt Ueli zu sich. "Kann ich
sie glücklich machen? Keinesfalls. Sie ist jung, sie ist vital und
ich... Ich habe mehr Vergangenheit als Zukunft. Ich bin schon alt
geworden, ich kann sie nicht immer verstehen und so können wir
keine gemeinsame Zukunft haben. Ich werde dich glücklich machen,
mein Kleines, ich werde dich freilassen."
Ueli nähert sich dem Fenster und schaut in aller Ruhe die ganze
Nacht dem Spielen des Windes mit den Blättern zu.
Am Mittag ist Ueli wirklich besorgt, weil er keine Nachricht von Anna
bekommen hat. Er beginnt herum zu telefonieren, aber kein Schwein kennt
ihren Aufenthaltsort. "Jetzt habe ich sie wirklich verloren... Ich muss
nicht auf sie verzichten. Das ist aber bequemer. Doch ist es schade,
dass ich sie - " Das Klingeln des Telefons unterbricht Uelis
Grübelei. Er wirft sich auf das Telefon, nimmt ab und
hört: "Haben Sie Zeit? Darf ich eine Umfrage machen?"
"Ich gahh!", sagt Berta. "Nein Mutter, ich gehe." -"Hallo Erika, wie
geht's. Mutti ist oben." -"Ich komme heute nicht wegen deiner Mutter",
sagt Erika, und sie fügt hinzu: "Ich muss mit dir über meine
Nichte sprechen. Um drei Uhr fährt sie nach Interlaken. Sie geht
nicht allein. Sie geht mit Robert. Möchtest du entweder für
sie kämpfen oder bleibst du auf ewig mit deiner Mutter oder...?"
"Wer isch da, Ueli?", fragt Berta. "Niemand Mutti", lügt Ueli.
"Mutti, ich muss gehen"
Ueli sitzt am Steuer von Erikas Auto und fährt ganz schnell. Erika
fürchtet, dass sie einen Unfall haben werden, aber sie schweigt,
sie schweigt den ganzen Weg zum Bahnhof. Sie wartet darauf, dass Ueli
sie fragt: "Warum hast du mich davor gewarnt?", und dann möchte
sie antworten: "Weil ich dich glücklich sehen will, weil du eine
gute Seele bist, weil ich dich liebe". Sie wartet den ganzen Weg auf
diese Frage, aber sie wird von Ueli nicht gestellt. Im Gegenteil sagt
Ueli keinen Pieps und darum gibt Erika ihre Hoffnungen nochmals -wie in
anderen Zeiten, wie mit anderen Männer, wie immer mit allen
Sachen- auf.
In der Bahnhofstrasse nimmt Ueli Abschied. Er sagt aufrichtig: "Vielen
Dank Erika, vielen Dank." Erika antwortet nicht, sie kann nicht
antworten, da verschwindet Ueli schon in der Volksmasse.
Ueli schaut auf dem Fahrplan nach und rennt zum Zug. Eine Frau
verhindert, dass die Zugtür sich schliesst. Der Schaffner wirft
der Frau ihr Benehmen vor, unterdessen steigt Ueli ein. Ueli bedankt
sich bei der Frau und beginnt nachzudenken. "Wo könnten sie sein?
Was werde ich machen, wenn ich sie treffe? Was werde ich sagen? Nein,
nein, nein, warte. Sie müssen sprechen, sie müssen als Erste
sprechen, sie müssen mir eine Erklärung dafür geben. Am
besten schlage ich den Schuft... Nein, er ist grösser und
jünger und ich kann angeklagt werden... Was soll ich tun? Ich habe
bisher nichts gegessen und wahrscheinlich habe ich Mundgeruch. Am
liebsten esse ich ein wenig." Da merkt er, dass er kein Geld bei sich
hat! "Schhhhhhhhhade!", sagt er zu sich. "Ich kann nicht die Prinzessin
retten und dann Geld vom Drachen borgen (Anna soll kein Geld haben)."
Ueli läuft auf die Toilette, und beschliesst, während der
Reise dort zubleiben.
Ohnehin muss Ueli eine Busse bekommen. Als er die Tür öffnet,
begegnet er dem Kontrolleur. Dieser hat auf jenen gewartet. Im Bahnhof
Bern rennt Ueli nochmals. Er erklärt die Situation dem Schaffner,
trotzdem muss er die neue Geldstrafe bekommen. Auf alle Fälle kann
er den Zug nach Interlaken nehmen.
"Was tue ich nun? Jetzt kann ich beide suchen, ohne Furcht vor einer
Geldstrafe zu haben, da ich die schon bekommen habe", sagt unser Held
zu sich. "Aber vielleicht lohnt es sich nicht. Wenn sie nicht bei mir
sein möchte... Was tun, was tun? Und wo war sie die ganze Nacht?
Bei jenem? Kann ich ihr verzeihen?" Ueli läuft nochmals auf die
Toilette, und er sperrt sich die ganze Reise darin ein... Es ist
schade, dass, wenn man es braucht, es keinen Ort auf der ganzen Welt
gibt, wo man weinen kann, wo man richtig weinen darf. Kein Zimmer ist
geeignet, an keinem Ort findet man sich selbst. Ueli verzichtete auf
Anna zwischen fünf metallischen Wänden, zwischen
Toilettenpapier, zwischen Geräuschen und Gerüchen. Alle diese
Papiere reichen nicht, um Uelis Tränenfälle zu trocknen. Ueli
hat den Krieg verloren, die Einsamkeit hat ihm auch die letzte Chance
zur Freude genommen.
Ueli ist auf dem Bahnhof von Interlaken und wartet auf den
nächsten Zug nach Zürich. "Ich setze mein Leben aufs Spiel,
ich tausche mein Leben um,
auf alle Fälle
wird es von mir verloren
Und ich setze es aufs Spiel oder tausche um, gegen das kindlichste
Trugbild,
ich spende es für Niessbrauch, oder ich schenke es..."
2
sagt Ueli leise auf, und beschliesst länger in Interlaken zu
bleiben, damit das Glück über sein Leben entscheiden
könnte.
Anna sieht Ueli in genau diesem Augenblick und lachend versucht sie in
der Touristenmasse zu verschwinden. "Er ist hier. Er ist nur
meinetwegen bis hier gekommen. Er mag mich wirklich. Jetzt muss er nur
ein bisschen mehr leiden und dann kann ich bestätigen, dass er der
Mann, der Gentleman, meines Lebens ist", denkt Anna.
Nach zwei Stunden beginnt Anna, sich um Ueli zu sorgen. Den ganzen
Ausflug hindurch versuchte sie, sich auffällig zu benehmen, damit
Ueli sie einfacher finden konnte. Sie hat laut gesprochen, ist oft
wegen Dummheiten in Gelächter ausgebrochen, in der Mitte der
Strasse spaziert, usw. Eigentlich will sie nochmals nach Zürich.
Robert wird schon aufdringlicher. "Robert, weisst du... die Sache von
gestern... ich war völlig besoffen... du, du weisst es schon...
ich mag, ich mag dich nicht... ich mag Ueli... Es tut mir Leid! Ich
habe es nur aus Trotz gemacht", sagt Anna zu Robert. Er antwortet: "Du
musst dich dafür nicht entschuldigen, Liebes. Ich mag dich auch
nicht. Trotzdem können wir zusammen spazieren, zusammen sprechen,
zusammen tanzen, zusammen trinken und zusammen schlafen, oder? Ich rede
nicht von Liebe, Liebes. Du kannst zu mir kommen, wenn du es brauchst.
Unsere Freundschaft wird durch Bänder, nicht durch Ketten
geschlossen. Ich werde nicht vor Kummer sterben, da du Ueli mehr als
ich magst, mein Liebes." Anna ist enttäuscht. Sie hat nicht viel
von ihm erwartet, aber diese Rede war richtig kalt, antiromantisch,
antiklimax.
3
"Ich möchte nach Zürich, bitte. Wir können
etwas essen und dann gehen. Einverstanden? Es ist mir schlecht", sagt
Anna und Robert erwidert: "Ach. Du bist ein empfindlicher Mensch!
Guuet, gehen wir!"
In dem Restaurant "Toi, Toi, Toi" findet Ueli beide. Ueli nähert
sich dem Tisch und steht einfach dort. Nach einer Minute bricht er die
Stille:
"Ich will mit dem gehen, den ich liebe.
Ich will nicht ausrechnen, was es kostet.
Ich will nicht nachdenken, ob es gut ist.
Ich will nicht wissen, ob er mich liebt.
Ich will mit ihm gehen, den ich liebe." [Brecht]
Robert verlässt den Tisch sofort und wartet auf Anna am Tresen.
Ueli sieht seine Liebe an und schweigt. Anna sagt: "Ich habe dir etwas
zu sagen, Ueli. Ich liebe dich ohne wenn und ohne aber. Du liebst mich,
ohne wenn und ohne aber. Reicht es, um glücklich zu sein? Ich
habe... Ich habe mit Robert geschlafen. Ich kann mich nicht genau daran
erinnern, weil ich sehr betrunken war... Ich bedaure es, ehrlich, aber
ich kann die Vergangenheit nicht ändern. Mein Benehmen war
kindisch, ich weiss es, aber vielleicht mache ich in Zukunft dasselbe.
Ich bin launenhaft und du hast dir diesen Verrat nicht verdient.
Ausserdem..."
"Ich will mit dem gehen, den ich liebe.
Ich will nicht ausrechnen, was es kostet.
Ich will nicht nachdenken, ob es gut ist.
Ich will nicht wissen, ob er mich liebt.
Ich will mit ihm gehen, den ich liebe."
wiederholt Ueli lauter und langsam. Anna lacht und weint. Beide lachen
und weinen und sie nehmen sich an den unruhigen und kalten Händen.
"Möchtest du essen, Ueli? Du siehst hungrig aus", fragt Anna. "Ja,
sagt Ueli, aber ich habe kein Geld", antwortet Ueli. "Ach so", sagt
Anna, "entschuldigung. Ich habe gestern dein Portemonnaie
mitgenommen... Ohne Geld zu haben, konnte ich nicht zu weit gehen.
Verzeihst du mir? Ich kann dich heute zum Abendessen einladen."
Trotz des häufigen Streitens wurden sie für immer
glücklich.
E N D E
Anmerkungen
1
Uelis Mutter, Berta, fährt ganz im Gegensatz zu
ihrem Sohn, der als Lokomotivführer arbeitet, gar nicht gerne Zug.
Sie lässt sich darum von Erika mit dem Auto abholen. Erika ist die
Tante von Anna. Sie ist Krankenschwester und arbeitet in einem
Altersheim. Sie kennt Berta, weil
sie ihr mal im Haushalt geholfen hatte, als Berta sehr krank war. Die
beiden sind gute Freundinnen geworden. Zudem ist Erika auch ein
bisschen in Ueli verliebt. Das Hobby von Ueli ist das Schreiben von
Liebesromanen. Erika liebt
diese Liebesromane und hat sich heimlich in Ueli verliebt… Jedenfalls,
um wieder zur Geschichte zurückzukommen: Erika holt Berta in
Luzern mit dem Auto ab und fährt mit ihr nach Zürich
zurück. Ueli ist jetzt also allein in Luzern… (
↑)
2
Übersetzung
eines Gedichtes von León de Greiff (Niessbrauch = uso fructo). (
↑)
3
Antiklimax
soll ausdrücken: absoluter Nullpunkt. Das Gegenteil von
Höhepunkt.
(
↑)
Diese Seite wurde am
8.10.03 von Cornelia Steinmann erstellt und am 14.10.03 zuletzt
bearbeitet. Das Copyright liegt beim
ConnyBrunner-IK-DaF-Zürich-Verlag und der Autorgruppe ;-)